Gestern wurde offiziell bekanntgegeben, daß es russischen Forschern nach 20 Jahren gelungen ist, den Wostoksee anzubohren. Er ist der größte Süßwassersee unter dem mehrere Kilometer dicken Eis der Antarktis. Man hofft, dort unbekannte Mikroorganismen und ein gänzlich neues Habitat zu entdecken.
Das Unternehmen ist jedoch aus Umweltschutzgründen höchst umstritten, und mir wurde auch ganz mulmig, als ich davon hörte, daß der Erde nun eines der letzten ihrer Geheimnisse entrissen werden soll. Ich dachte an die Wesen, die dort unten wohnen. Und wünsche mir, daß sie ungestört bleiben …
Eis über Eis
Eis über glasklarem Wasser,
Eis unter wirbelndem Schnee,
Eis unter endlosen Tagen und Nächten,
Eis über unserem See.
Hunderte, Tausende Jahre
Eis über Eis über Eis.
Hunderte, Tausende Meter tief leben,
wo niemand von uns etwas weiß.
Wer wir sind, woher wir kamen,
spielt keine Rolle mehr in dieser Welt ohne Licht.
Unsre Gestalten und Namen
haben wir längst schon vergessen, wir brauchen sie nicht.
Unsere Sprache ist Schweigen.
Unsere Sprache ist still.
Unsere Sprache ist klarer Gedanke
und zärtliches, tiefes Gefühl.
Wir wollen euch was erzählen,
aber ihr hört uns nicht zu,
bohrt euch durch’s Eis mit Maschinengewalt
und zerstört dabei unsere Ruh.
Wir sind die letzten, die wissen,
daß diese Welt einmal friedlich und unbeschwert war.
Bald wird das Dunkel zerrissen,
mit eurem Licht bringt ihr uns in die größte Gefahr.
Laßt uns doch bitte in Frieden!
Laßt unser Reich unberührt!
Laßt eure Neugierde ungestillt bleiben,
denn sie hat euch bitter verführt.
Lernt, eure Fragen zu lieben,
Antworten gibt es genug.
Es lohnt sich, unser Geheimnis zu wahren,
denn Ahnen, nicht Wissen, macht klug.
Wir wollen gern mit euch sprechen.
Lauscht in der eisigen Nacht in euch selber hinein.
Ihr braucht das Eis nicht zu brechen
um unsere Welt zu verstehen, verborgen und rein.
Hier ist der letzte der Orte,
von dem kein Mensch etwas weiß.
Eis über unserem Wasser,
Eis über Eis über Eis …
© Karan 2012
– alle Beiträge zum FAWM 2012